Im Jahr 2022 befand sich die Inflation mit 7,9% auf einem Rekordhoch wie seit 50 Jahren nicht mehr. Insbesondere Preissteigerungen im Energie- und Lebensmittelbereich haben dafür gesorgt, dass Menschen mit prekären Einkommen kaum noch wissen, wie sie am Ende des Monats über die Runden kommen sollen. Die Bundesregierung macht hierfür insbesondere Lieferengpässe aufgrund des Kriegs in der Ukraine sowie der Pandemie verantwortlich. Zur Bekämpfung der Inflation reagierte sie mit einer „konzertierten Aktion“ wie der Energiepauschale, während Arbeitgeberverbände zur Lohnzurückhaltung mahnen. Doch wo liegen die wahren Gründe für die Inflation und was hat das ganze mit Klassenkampf zu tun?
Zunächst beschreibt Inflation den dauerhaften und gleichzeitigen Preisanstieg von vielen Verbrauchsgütern. Dabei ist sie jedoch kein mysteriöses Naturgesetz, sondern ein ganz konkretes Ergebnis der Handlungen von Wirtschaftsakteuren, in erster Linie der Unternehmen. Während Verbraucher:innen sich stabile oder sinkende Preise wünschen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verhält es sich bei Unternehmen anders: Sie nutzen jede Gelegenheit, um Preise anzuheben und somit höhere Gewinne zu erzielen. Sie tun das nicht, weil sie gierig sind oder weil sie äußere Umstände wie der Krieg dazu zwingt, sondern weil es der Gewinnmaximierungslogik des Kapitalismus entspricht.
Deutlich wird dies, wenn man sich den Beginn des aktuellen Inflationsverlaufs sowie die Unternehmensgewinne des letzten Jahres anschaut. Die Preissteigerungen in ihrer aktuellen Form begannen bereits Mitte des Jahres 2021, also Monate vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine und den daraus resultierenden Engpässen, in einer Phase als sich die Wirtschaft von den schlimmsten Auswirkungen des ersten Pandemiejahres zu erholen begann. Unternehmen spekulierten auf eine höhere Kaufkraft in der Bevölkerung und hoben vorsorglich die Preise an.
Mit Kriegsbeginn kam es nun tatsächlich zu Lieferengpässen, da Deutschland ein Großteil seines Energiebedarfs mit russischem Erdöl und Erdgasbedarfs deckte und die Ukraine als „Kornkammer Europas“ bspw. der weltweit größte Produzent von Sonnenblumenöl ist. Diese Verknappung des Angebots führte auch bei Unternehmen zu Steigerung der Produktionskosten. Jedoch wurde diese Teuerung nicht eins-zu-eins an den Verbraucher weitergegeben, sondern um eine ordentliche Gewinnmarge erhöht. So war etwa die Verdopplung der Benzinpreise im letzten Jahr in keiner Weise durch den Anstieg des Rohölpreises gerechtfertigt, sondern lag vielmehr in verabredeten Preisabsprachen der Ölindustrie begründet.
Diese Preiserhöhungen zwecks Gewinnmaximierung hat bei vielen Unternehmen 2022 für ein Rekordjahr gesorgt: Das weltweit größte Mineralöl- und Erdgasunternehmen Shell konnte im ersten Quartal 2022 den größten Gewinn der Unternehmensgeschichte erzielen. Auch der Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz steigerte 2022 sein Vermögen trotz Krieg und Pandemie mal eben um über 14 Milliarden Euro. Aber auch in vielen anderen Branchen konnten Rekordgewinne erzielt werden und so jubelte das neoliberale Kampfblatt FAZ Anfang diesen Jahres: „Die Inflation kennt auch Gewinner. Viele Unternehmen konnten dank steigender Preise ihre Gewinne erhöhen. Aktionäre profitieren mit Rekorddividenden.“
Während also Unternehmen und ihre Anteilseigner stark von der hohen Inflation profitieren, stehen Arbeiter:innen auf der Verliererseite. So sind deren Reallöhne 2022 bereits das dritte Jahr in Folge gesunken. Lohnerhöhungen haben also drei Jahre hintereinander nicht mal die Preissteigerungen ausgeglichen. Vielmehr müssen Lohnabhängige einen immer größeren Anteil ihres Lohns für Grundnahrungsmittel und Heizkosten ausgeben, also für die überlebensnotwendige Grundversorgung. Geld, um nebenbei in Aktien zu investieren und so an den Gewinnen des deutschen Kapitals teilzuhaben, bleibt dort selbstredend keines mehr über. Dementsprechend ist es nur logisch, dass die Vermögensunterschiede zwischen arm und reich in Deutschland in den letzten Jahren massiv gestiegen sind. Inflation muss daher auch als gezieltes Umverteilungsprogramm von unten nach oben gesehen werden.
Angesichts dieser Entwicklung erscheinen die Forderungen der Arbeitgeberverbände nach Lohnzurückhaltung als blanker Zynismus. In jeder Tarifrunde wird erneut auf den Mythos der „Lohn-Preis-Spirale“ verwiesen, laut dem Unternehmen gezwungen seien, höhere Löhne direkt an den Endverbraucher weiterzugeben, um die gestiegenen Produktionskosten auszugleichen. Damit wird implizit den Gewerkschaften mit ihren überzogenen Gehaltsvorstellungen die Schuld am Inflationsgeschehen gegeben. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit vielmehr um eine „Preis-Preis-Spirale“ bzw. „Preis-Gewinn-Spirale“: Höher angesetzte Energiepreise führen in allen Bereichen zu höheren Produktionskosten, die inklusive eines Aufschlags zur Gewinnmaximierung an die Verbraucher weitergegeben werden.
Dieser Klassenkampf von oben ist keine neues Phänomen, sondern tobt in dieser Form in Deutschland spätestens seit der Neoliberalisierung der Agenda 2010 der frühen 00er-Jahre. Galigrü SPD an dieser Stelle. Jedoch auch die Schwäche der Linken im Allgemeinen und der Gewerkschaften im Besonderen trägt zu dieser Entwicklung bei. Galt 1998 noch für 76% aller Deutschen ein Tarifvertrag sind es es heute nur noch 43%. Angesichts dieser schwachen Verhandlungsposition ist es nicht verwunderlich, dass es den Gewerkschaften auch in aktuellen Tarifrunden kaum gelingt, Lohnerhöhungen über dem Inflationsausgleich auszuhandeln.
Dabei macht es sich auch die radikale Linke oftmals zu einfach, wenn sie entweder auf reformistische Gewerkschaften schimpft oder sich rein symbolisch mit Arbeitskämpfen solidarisiert. Vielmehr müssen Arbeitskämpfe praktisch unterstützt und die Position der Gewerkschaften mit Mitgliedschaft verbessert werden. Denn sie sind immer noch die erste Verteidigungslinie im Kampf gegen die Auswüchse des Kapitalismus, wie auch die Inflation einen darstellt. Langfristig hilft natürlich auch hier nur eine radikale Neugestaltung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das die Verteilung von Gütern nicht durch Preis und Markt bestimmt. Aber irgendwo muss man ja anfangen. In diesem Sinne: Zeit sich zu wehren!