Warum der Kampf gegen Rassismus auch anti-kapitalistisch sein muss

Am 19. Februar 2020, vor nun fast drei Jahren, wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov von einem Faschisten aus rassistischen Motiven ermordet.

Will man verstehen, wie es so weit kommen konnte, fällt einem zunächst die in Deutschland beständig hohe Konjunktur rassistischer Debatten um „Clankriminalität“, Integration oder Leitkultur (jüngst war es die Debatte um die „Silvesterkrawalle“ in Berlin) auf. Diese systematisch geschürten Diskurse haben den Zweck migrantische Orte als vermeintlich gefährliche Orte zu markieren, um im zweiten Schritt die behauptete Schwäche der Staatsgewalt in der Einhegung dieser „migrantischen Gefahr“ anzuprangern. Es ist also kein Zufall – sondern vielmehr die tödliche Konsequenz dieser Debatten –, dass der Mörder von Hanau genau solche Orte zum Ziel seiner Anschläge machte.

Nun ist die rassistische Weltanschauung, die in solchen Diskursen zu Tage tritt (und sie gleichzeitig weiter anfeuert), nicht nur bei Anhänger:innen von Parteien wie der AfD zu finden, sondern bis weit in die „bürgerliche Mitte“ anzutreffen. Rassismus ist hierzulande beileibe keine Randerscheinung, sondern Normalität. Dementsprechend lässt sich der Anschlag von Hanau auch als Auswuchs genau jener rassistischen Normalität verstehen.

Doch was sind die Quellen des Rassismus? Was sichert sein Fortbestehen in der sich doch als „offen“ und „divers“ verstehenden bürgerlichen Gesellschaft? Was trägt zu der (im schlimmsten Falle tödlichen) rassistischen Normalität bei? Oder allgemeiner: Das Fortbestehen des Rassismus dort, wo der Kapitalismus vorherrscht, wirft die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Rassismus auf. Ist Rassismus also mehr als die Summe individueller Ressentiments? Die Beantwortung dieser Frage macht eine marxistische Analyse notwendig, um daran anschließend eine dem Phänomen adäquate antirassistische Praxis entwickeln zu können.

Dabei ist zunächst festzustellen, dass sich Rassismus nicht allein aus den Bedürfnissen des Kapitals und der herrschenden Klasse ableiten lässt. Koloniale Genozide – wie bspw. der Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika – erfolgten weder aufgrund einer bestimmten Kapitallogik noch wurden sie durch rational-ökonomische Erwägungen verhindert. Auch der terroristische Anschlag von Hanau folgt nicht dieser Logik. Es zeigt vielmehr, dass Rassismus als eigenständiges und auch widersprüchliches Phänomen zu begreifen ist, das eine mörderische Eigendynamik entwickeln kann. Doch kommt dem Rassismus bestimmte Funktionen in unserer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft zu, weshalb der Blick auf die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse unverzichtbar ist. Während die historischen Ursprünge des modernen Rassismus unzweifelhaft in der kolonialen Ausbeutung des globalen Südens zu suchen sind, wollen wir uns in dieser kurzen Analyse jedoch auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände in Deutschland beschränken.

Schaut man sich die ungleiche Verteilung von rassifizierten Menschen in den verschiedenen Klassen an, so muss man auch einen Zusammenhang zwischen der Klassengesellschaft und Rassismus feststellen. Dieser Zusammenhang wird in Deutschland besonders an einem ethnisch segregierten Arbeitsmarkt deutlich, in dem viele Migrant:innen in den Niedriglohnsektor gezwungen werden. In Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt durch das sog. Arbeitnehmerfreizügigkeitsgesetz der EU – eine Reservearmee migrantischer Arbeiter:innen entstanden, ohne deren Arbeitskraft der Wirtschaftsstandort BRD zusammenbrechen würde. Die massenhafte Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte ist jedoch kein neues Phänomen, sondern zieht sich durch die Wirtschafts- und Migrationsgeschichte der BRD und zeigt sich insbesondere am Umgang mit sog. „Gastarbeitern“. So wurden seit den 1950er Jahren aufgrund des Arbeitskräftemangels diverse Abwerbeabkommen mit vornehmlich südeuropäischen Ländern geschlossen. Auf diesen Pool von billigen und profitablen Arbeitskräften konnte flexibel als Reserve zugegriffen werden. Genauso flexibel gestaltete sich die Auflösung der Arbeitsverhältnisse, da ihnen aufgrund des sog. „Inländerprimats“ jederzeit konjunkturbedingt gekündigt werden konnte. Als schließlich in den 1980er und 90er Jahren der Arbeitskräftebedarf aufgrund einer Wirtschaftskrise nicht mehr bestand, wurde ein Anwerbestopp beschlossen und Migrant:innen dazu gezwungen, eine Selbstständigkeit nachzuweisen, um nicht ausgewiesen zu werden. Dies drängte viele der ehemaligen Gastarbeiter in die Illegalität oder dazu, Kleinunternehmer:innen zu werden.

Heute zeigt sich insbesondere am Umgang mit Geflüchteten, dass sich der Wert von Migrant:innen vor allem an ihrem Verwertungspotenzial für das Kapital bemisst. Solange sie bereit sind, sich unter prekären Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor ausbeuten zu lassen, gewährt ihnen der deutsche Staat ein Bleiberecht. Entziehen sie sich diesem Verschleiß ihrer Körper im Verwertungsprozess des Kapitals, muss jederzeit mit einer Abschiebung gerechnet werden – auch in Krisen- und Konfliktgebiete. Aufgrund dieses flexiblen Zugriffs und der hohen Profitabilität stellen Arbeitsmigrant:innen seit jeher eine wichtige Basis für den ökonomischen Erfolg der BRD und auch für den wirtschaftlichen Aufstieg der deutschen Arbeitnehmer:innen in den 60er und 70er Jahren dar.

Entgegen der Behauptung von rechter und konservativer Seite treten Arbeitsmigrant:innen keinesfalls in Konkurrenz zu den deutschen Arbeiter:innen und sind ebenso wenig für das vergleichsweise niedrige Lohnniveau in Deutschland verantwortlich. Denn es finden sich kaum noch deutsche Arbeitskräfte, die sich zu derart schlechten Löhnen und Arbeitsbedingungen ausbeuten lassen. Diese größtenteils migrantische industrielle Reservearmee findet sich im gesamten Niedriglohnsektor, jedoch insbesondere im Pflege- und Transportwesen, der Landwirtschaft, der Fleischindustrie, dem Reinigungswesen und dem Baugewerbe. Die aufgrund von Werkverträgen, Saison- und Leiharbeit katastrophalen Arbeits- und Wohnbedingungen dieser Menschen liegen fast vollständig im toten Winkel der bürgerlichen Öffentlichkeit. Die Kombination aus schlechten Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnissen sowie einem sehr niedrigen Lohn setzt sie einer Überausbeutung aus, die weit über die Ausbeutung des durchschnittlichen deutschen Arbeiters hinausgeht. So kommt es zu einer materiellen Hierarchisierung zwischen überausgebeuteten migrantischen Arbeiter:innen und ausgebeuteten deutschen Arbeiter:innen innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Rassismus dient demnach auch innerhalb der Arbeiterklasse als ideologische Legitimierung einer materiellen Abwertung und führt letztendlich zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Klasse bis hin zur Spaltung. Rassismus hat demnach nicht nur legitimierende Funktion, sondern hat auch ganz konkret die Zersetzung des Klassenbewusstseins zur Folge.

Doch dient der Rassismus nicht nur der Legitimierung einer Schlechterstellung auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch einer nachrangigen Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen. Dies wird insbesondere auf dem Wohnungsmarkt sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen deutlich, zu denen rassifizierte Menschen erschwerten Zugang haben. Auch der Zugang zu juristischer Aufklärung ist für rassifizierte Menschen beeinträchtigt – wie bspw. die rassistischen Ermittlungen im Zuge des NSU-Komplexes und nicht zuletzt der fehlende Aufklärungswille seitens der staatlichen Ermittlungsbehörden im Kontext des Terroranschlags in Hanau bezeugen.

Aufgrund der ökonomischen Funktion haben auch die staatlichen Repressionsorgane ein Interesse daran, dass dieses Herrschaftsverhältnis bestehen bleibt. Um zu verhindern, dass sich rassifizierte Menschen und Gruppen aus ihrer beherrschten Position befreien, sich organisieren und letztendlich aufbegehren, sind sie exzessiven Kontrollen und Repressionen ausgesetzt. Hier seien nur „verdachtsunabhängige“ Kontrollen oder die polizeilichen Repressionen gegen Proteste in Sammelunterkünften für Geflüchtete genannt.

Bei Rassismus handelt es sich also nicht nur um ein reines Bewusstseinsproblem. Vielmehr hat er auch seine Wurzeln in der Profitlogik des Kapitalismus selbst und muss daher im besten Sinne radikal – sprich ‘an der Wurzel’: dem kapitalistischen Produktionsprozess – bekämpft werden. Rassismus ist als ein herrschaftsförmiges Re-/Produktionsverhältnis zu begreifen, das sich zwar auch rassistischer Sprache, Argumentationen und Denkmuster bedient, jedoch vor allem die Herrschaft rassistisch privilegierter Gruppen stützt, legitimiert und durchzusetzt.

Natürlich ist wie angesprochen der Kapitalismus nicht die einzige Quelle des Rassismus, aber wenn man seine Rolle ignoriert – wie es der herrschende, liberale Antirassismus tut, indem er Rassismus zuvorderst als individuelles Ressentiment betrachtet, an dem es demzufolge auch nur auf der Ebene des individuellen Bewusstseins zu arbeiten gilt –, dann wird man ihn niemals erfolgreich bekämpfen können. Ein seiner kapitalistischen Gestalt adäquater und daher konsequenter Antirassismus muss also notwendig anti-kapitalistisch sein. Um Rassismus eines Tages überwinden zu können, müssen wir auch das System umwerfen, das ihm den Nährboden bietet; dessen Strukturen ihn produzieren und reproduzieren. Wirksamer Antirassismus geht nur mit Klassenkampf und ist auf allen Ebenen zu führen: Im Bewusstsein der Menschen, wie an der materiellen Basis – in ihren Köpfen, wie auf der Straße.  In diesem Sinne schließen wir uns dem diesjährigen Aufruf der Initiative 19. Februar an: Erinnern heißt verändern!

Diese nur skizzenhaft dargestellte Analyse kann das Thema natürlich nicht vollumfänglich erfassen und soll vielmehr als Denk- und Diskussionsanstoß darstellen. In diesem Zusammenhang ist es ein großer Verdienst, dass Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo die marxistische Rassismusanalyse mit dem Buch „Diversität der Ausbeutung“ (aus welchem dieser Text viele Argumente bezieht) wiederaufgegriffen haben (bzw. für den deutschen Diskurs reaktualisiert haben). Um dieser Intervention in die Debatte auch in Frankfurt den notwendigen Raum zu geben, laden wir am Freitag, dem 17. Februar um 19 Uhr ins Café ExZess (Leipziger Straße 91): Bafta Sarbo wird das Buch vorstellen und danach gemeinsam mit uns Fragen der materialistischen Rassismusanalyse, der Kritik am liberalen Antirassismus und sozialistischen Alternativen zu ebenjenem diskutieren.