Psychische Gesundheit im Kapitalismus

Redebeitrag der Revolutionären Einheit Darmstadt auf der revolutionären 1.Mai Demonstration 2023 in Frankfurt:

In Deutschland ist die Anzahl junger Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörung innerhalb der letzten Jahre stetig gestiegen.

Zwar scheint die Problematik längst in der bürgerlichen Debatte angekommen zu sein, aber während uns reiche Influencer:innen oder die Werbung erzählen, das Problem läge nur bei uns und wir müssten nur Duftkerzen kaufen, Dankbarkeitstagebücher führen oder uns einfach mal eine Auszeit nehmen, wird über die Hauptursache dieser Epidemie der Misere fast überall still geschwiegen. Das Leid von uns allen wird wie so vieles im Kapitalismus zu einem Bedürfnis fetischisiert, aus dem sich massig Profit erwirtschaften lässt. Doch ist der Kapitalismus nicht nur Profiteur dieser Situation, er ist vor allem auch die Hauptursache für unsere Probleme. An dieser Stelle möchte ich auf den Rapper Hanybal verweisen, der diesen Zusammenhang gekonnt auf den Punkt gebracht hat: “Es liegt an diesem scheiß System, dass es vielen von uns scheiße geht!”
Wie sollen wir optimistisch in die Zukunft blicken oder nachts ruhig schlafen können, wenn unser Alltag geprägt ist von Existenzängsten und Leistungsdruck?Wie sollen wir keine Angst haben, wenn wir in einer Zeit von Krisen leben? – In einer Zeit, in der Profitinteressen Kriege befeuern, Privatjets, Energiekonzerne und Überproduktion unseren Planeten kaputt machen? Wie sollen wir keine Angst haben, wenn unsere Zukunft Inflation heißt? Wenn alles teurer wird, die Löhne nicht steigen und wir schon letztes Jahr kaum wussten, wie wir unsere Miete zahlen sollen?

Wir leben in einem System, in dem Menschen mit berechenbarer Emotionskälte, skrupellose und entwürdigende Arbeitsaufträge ausführen müssen.Wir bekommen beigebracht, Gefühle zu zeigen, sei unprofessionell, wenn man sich mit etwas unwohl fühlt, müsse man nur seine Zähne zusammenbeißen, jeder habe sein Schicksal schon verdient. Dieses System bringt Menschen hervor, die empathielos anderen Menschen die Sozialleistungen kürzen oder wiederum andere Menschen abschieben, kurz gesagt: ihnen die ganze Existenzgrundlage mitsamt ihrer Würde entziehen.

Wir arbeiten in Jobs, die wir hassen und arbeiten trotzdem, weil wir es müssen. Wir lassen uns von unseren Vorgesetzten schikanieren, weil wir abhängig sind vom Gehalt, das sie uns zahlen. Wir riskieren einen Burnout für den Mindestlohn. Dieses System macht uns zu entfremdeten Wesen. Nicht nur entfremdet von unserer Arbeit, sondern auch voneinander und von unseren Emotionen.
Die Zahl junger Drogentoter ist in den letzten Jahren gestiegen. Wundert das noch irgendwen? Welchen Umgang mit den eigenen Problemen soll man denn sonst auch finden, wenn man den Umständen, in die man geboren wurde, so machtlos ausgesetzt ist?

Ich rede von “wir”, aber das soll in keinster Weise darüber hinwegtäuschen, dass nicht alle gleichermaßen von dem Risiko, psychisch krank zu werden, betroffen sind. Psychische Erkrankungen lassen sich in allen Klassen wiederfinden, das mag sein, aber neben der erblichen Disposition und unvorhersehbaren Schicksalsschlägen, sind es vor allem die sozialen, materiellen Umstände, die einen großen Einfluss auf das Wohlergehen der Psyche haben. Wenn du arm bist, nicht weiß bist oder dich nicht mit den hetero-binären Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und Sexualität identifizieren kannst, ist dein Risiko psychisch zu erkranken um ein vielfaches höher, als das der Menschen, die sich problemlos in unsere heteronormative, rassistische, kapitalistische Gesellschaft einfügen können. Doch nicht nur das Risiko psychisch zu erkranken, ist durch die Ungleichheit in unserer Gesellschaft bedingt. Auch die Möglichkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen, variiert je nach sozialer Position.

So bestimmen finanzielle Ressourcen die Möglichkeit der sozialen Teilhabe und den Zugang zu Hilfe im Falle einer persönlichen Krise. Die Möglichkeit, psychotherapeutisch angemessen unterstützt zu werden, ist viel höher, wenn man parallel dazu nicht in ständiger Existenzangst leben muss. Man kommt schneller an einen Therapieplatz, ist man privat-versichert und das notwendige Geld verhilft zu einem schnellen Klinikaufenthalt ohne monatelange Wartezeit. Denn das ist die Realität: Dein Geldbeutel bestimmt, wie schnell du Hilfe bekommst und was für Hilfe du bekommst! Wenn ich nach Monaten Wartezeit endlich mal ein Erstgespräch für eine Psychotherapie habe,
mache ich mir doch keine Gedanken mehr, ob es zwischen mir und dem:der Therapeut:in jetzt passt oder nicht. Dann muss halt mit dem alten Mann über sexuelle Belästigung oder mit der weißen Frau über Rassismuserfahrungen gesprochen werden.

Deutschland rühmt sich für sein Gesundheitssystem. Ein Gesundheitssystem, in dem sich die Klassengegensätze so offensichtlich manifestieren. Wer zahlt, kriegt Hilfe, wer das nicht kann, keine Hilfe – bzw. nach ein paar Monaten dann mal. Was das für Menschen in einer akuten Krise bedeutet, muss ich wohl kaum noch betonen. Diese desolate, fahrlässige Gesundheitsversorgung kostet Menschen das Leben.

Hilfe zu kriegen ist so wichtig, um wieder klar zu kommem, wieder Energie für den ganz normalen Alltag zu haben. Aber allzu oft wirkt eben diese Hilfe auch entpolitisiertend und individualisiertend. In der Psychotherapie beschäftigen wir uns mit uns selbst in unserem Mikrokosmos. Was ist in meiner Kindheit, und meiner Familie oder in der Schulzeit schiefgelaufen, dass ich die Probleme habe, die ich habe? Wir lernen mit unseren Problemen einen Umgang zu finden und wieder zu funktionieren. Das ist zweifelsfrei wichtig, aber sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ursachen unserer Probleme nur allzu oft in strukturellen Umständen begründet sind. Sie liegen in existenziellen Ängsten, Diskriminierungserfahrungen oder Leistungsdruck.

Wie soll man als Alleinerziehende:r mit Kind ein unbeschwertes Leben führen können, wenn man mit ständigen finanziellen Sorgen leben muss?Wie soll man als Transperson in dieser Gesellschaft ein unbeschwertes Leben führen können, in der die eigene Identität von anderen als verhandelbar betrachtet wird?

Wie soll man als migrantische oder Schwarze Person in dieser Gesellschaft ein unbeschwertes Leben führen können, wenn man weiß, die Brüder und Schwestern werden alltäglich wegen ihrer bloßen Existenz erniedrigt, kriminalisiert und ermordet? Woher sollen deine Träume kommen, wenn in deinem Viertel alle Drogen ticken, um an Geld zu kommen, weil nichts anderes mehr den sozialen Aufstieg verspricht?

Das alles sind keine Probleme, die nur du alleine hast. Aber vor allem sind es keine Probleme, gegen die man nichts machen kann!Der Kapitalismus ist kein verstorbener Verwandter, den man nicht mehr zum Leben erwecken kann, der Kapitalismus ist auch keine Drogenpsychose. Der Kapitalismus ist ein von Menschen gemachtes System, das abgeschafft werden kann und muss!
Therapie ist gut und wichtig, um die eigene Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen, aber vor allem müssen wir uns organisieren, um dieses krankmachende System zu überwinden! Unser Leid hat Struktur, wir sind keine Einzelfälle!