Am gestrigen 17. Juli 2025 hat Lieferando rund 2.000 festangestellten Fahrer:innen gekündigt – das entspricht etwa einem Fünftel der bundesweiten Flotte. Bereits zwei Wochen zuvor hatte das Unternehmen die Gesamtbetriebsräte nach Berlin einbestellt, um ihnen die Entscheidung mitzuteilen. Die Betroffenen selbst erfuhren davon erst am Donnerstagnachmittag – gegen 16 Uhr – per E-Mail. Besonders betroffen sind urbane Ballungsräume wie Frankfurt am Main, wo Rider mit spontanen Warnstreiks reagierten. Hinter dem Kahlschlag steht Lennard Neubauer, seit gut einem Jahr Deutschland-Chef von Lieferando – und älterer Bruder der Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Auf der Hauptwache protestierten sie gemeinsam mit der Gewerkschaft NGG (Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten) gegen die Entlassungen. Diese kritisiert nicht nur den Umfang, sondern auch die Art und Weise des Personalabbaus: Die Maßnahmen erfolgten ohne frühzeitige Einbindung der Betriebsräte – auffällig häufig dort, wo es aktive Mitbestimmungsgremien gibt. Mark Baumeister, NGG-Referatsleiter, spricht von einem „von langer Hand geplanten Vorgehen“ und warnt vor einer systematischen Aushöhlung betrieblicher Schutzstandards durch die sukzessive Auslagerung an Subunternehmen. Allein in Berlin seien laut NGG in wenigen Monaten rund 500 Stellen weggefallen. Besonders perfide: Viele der Gekündigten würden kurz darauf von Subunternehmen kontaktiert – mit neuen Verträgen zu schlechteren Bedingungen. Es habe Hinweise auf mutmaßliche Mindestlohnverstöße gegeben. Seit Monaten berichten Beschäftigte zudem, dass Lieferando gezielt auf ausgelagerte Subunternehmen wie „Fleetlery“ setze, um das Kuriergeschäft auszugliedern – noch bevor die geplante EU-Plattformrichtlinie wirksam wird. Damit wachse nicht nur die Prekarisierung, sondern auch die Entkopplung betrieblicher Kontrolle von den realen Arbeitsbedingungen: Die Steuerung bleibt zentral, die Risiken werden externalisiert.
Die NGG fordert daher nicht nur die Rücknahme der Kündigungen, sondern auch die Einführung eines Branchentarifvertrags mit einem Mindestlohn von 15 €, tariflichen Zuschlägen für Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit sowie ein Ende der Auslagerung an Subunternehmen. Parallel dazu betont die NGG, die Politik sei nun gefordert, ein Festanstellungsgebot analog zur Fleischindustrie auch auf die Lieferdienste durchzusetzen. In Hamburg hatte die NGG vergangene Woche zu einem 36-stündigen Warnstreik aufgerufen – dem Auftakt für weitere Arbeitsniederlegungen. Seit dem gestrigen Abend, 17 Uhr, läuft auch in der Rhein-Main-Region ein Warnstreik. Lieferando begründet die „Restrukturierung“ mit dem Ziel, auf einem „angespannten Marktumfeld“ künftig „flexibler“ und „kosteneffizienter“ – sprich: mit weniger Schutz und geringeren Löhnen – operieren zu können.
Doch warum gerade jetzt?
Offenbar will Lieferando einer geplanten EU-Richtlinie zur Regulierung der sogenannten Gig Economy zuvorkommen. Diese Form der digitalen Plattformarbeit ist geprägt durch Arbeitsverhältnisse ohne soziale Absicherung, Kündigungsschutz oder institutionalisierte Mitbestimmung. Die EU reagiert nun auf die weit verbreitete Scheinselbstständigkeit mit einer Regulierungsoffensive: Plattformunternehmen sollen verpflichtet werden, reale Arbeitsverhältnisse anzuerkennen. Zentral sind dabei die automatische Vermutung eines Arbeitsverhältnisses bei Erfüllung bestimmter Kriterien, eine Beweislastumkehr zugunsten der Beschäftigten sowie Transparenzpflichten im Hinblick auf algorithmische Steuerung. Diese Regelungen stellen das Geschäftsmodell vieler Plattformanbieter – auch das von Lieferando – strukturell infrage.
Lieferando scheint nun präventiv auf diese Regulierung zu reagieren. Durch Massenentlassungen und die schrittweise Übertragung eines Teils der Lieferlogistik – laut Unternehmen etwa fünf Prozent – an Schattenflotten von Subunternehmen entzieht sich das Unternehmen punktuell der direkten Arbeitgeberverantwortung. Das Modell ist nicht neu: In Berlin und Österreich operieren bereits solche ausgelagerten Dienstleister, während Lieferando weiterhin den Großteil der Fahrer:innen selbst beschäftigt und die digitale Infrastruktur bereitstellt. So bleibt das Angebot für Konsument:innen konstant, während arbeitsrechtliche Verpflichtungen dort, wo ausgelagert wird, systematisch externalisiert werden. Die Massenentlassung erscheint somit als strategischer Antizipationsakt gegenüber drohendem Regulierungsdruck – eine Anpassung nicht an bestehendes, sondern an kommendes Recht.
Ein teures Modell: Lieferandos hybride Strategie
Lieferando galt lange Zeit als Ausnahmeerscheinung in der Plattformökonomie. Im Gegensatz zu Konkurrenten wie Uber Eats oder Volt setzte das Unternehmen auf eine direkte Anstellung seiner Fahrer:innen – inklusive Mindestlohn, Sozialversicherung, Urlaubsanspruch und Kilometergeld. Auf dem Papier stellte dies eine progressive Abweichung von den ansonsten prekären Beschäftigungsmodellen der Branche dar. In der Praxis jedoch dominierten auch hier Mini- und Midijobs, fehlende Zuschläge wurden durch Trinkgeld ersetzt, mangelhafte Ausrüstung und algorithmisch gesteuerte Bonussysteme führten zu Unsicherheit, Druck und permanenter Leistungsüberwachung.
Das vergleichsweise regulierte Anstellungsmodell machte die Rider zu einem Kostenfaktor, der im Widerspruch zur Verwertungslogik des Plattformkapitalismus steht. Denn Lieferando operierte lange mit einem zweigleisigen Geschäftsmodell: dem profitablen sogenannten „Marketplace“-Modell und dem defizitären sogenannten „Delivery“-Modell. Während beim Marketplace-Modell die Restaurants selbst ausliefern und Lieferando lediglich eine Vermittlungsprovision einstreicht – etwa 90 % der Bestellungen – erwirtschaftet das Unternehmen hier Gewinne. Das Delivery-Modell hingegen greift dort, wo Restaurants keine eigene Logistik haben – und hier übernimmt Lieferando selbst die Auslieferung durch festangestellte Fahrer:innen.
Genau dieses Segment jedoch ist betriebswirtschaftlich ein Verlustgeschäft. Laut einem Interview aus dem Jahr 2022 kostet ein festangestellter Rider das Unternehmen rund 20 € brutto pro Stunde. Im Schnitt schafft ein solcher Rider zwei Lieferungen pro Stunde. Bei einem durchschnittlichen Transaktionswert von 25 € pro Lieferung bleiben etwa 7,50 € pro Auftrag bei Lieferando hängen. Daraus ergibt sich ein Verlust von rund 5 € pro Stunde – trotz eines vermeintlich effizienten Arbeitsablaufs. Und dennoch hielt das Unternehmen lange an seinen eigenen Fahrer:innen fest – nicht aus betriebswirtschaftlicher Rationalität, sondern aus strategischem Kalkül.
Verlust durch Fahrer – Gewinn durch Monopol
Der wirtschaftliche Verlust des Delivery-Modells erklärt sich nicht aus einem kurzfristigen betriebswirtschaftlichen Kalkül, sondern aus dessen strategischer Bedeutung für die Plattformlogik. Die direkte Auslieferung durch Lieferando sichert nicht primär Rentabilität, sondern infrastrukturelle Dominanz: Nur wenn das Unternehmen in der Lage ist, unabhängig von der Logistik einzelner Restaurants flächendeckend Lieferungen anzubieten, kann es sich gegenüber gastronomischen Betrieben wie Konsument:innen als alternativlose Schnittstelle positionieren. Die Auslieferung auf der sogenannten „letzten Meile“ fungiert somit als Instrument zur Monopolisierung des digitalen Marktes – ein Verlustgeschäft, das sich als Investition in Marktmacht rechnet.
Auf dieser Grundlage lassen sich auch die hohen Kommissionssätze erklären, die Lieferando von den Restaurants verlangt – derzeit rund 12 %. Die Plattform verspricht Reichweite, Sichtbarkeit und eine logistische Komplettlösung. Wer sich diesem System entzieht, verliert Kundenzugänge; wer sich integriert, unterwirft sich den Konditionen. Der eigene Lieferdienst diente damit weniger dem unmittelbaren Profit, sondern der strategischen Kontrolle über die Lieferkette – eine Form digitaler Infrastrukturmacht, deren zentrales Kapital nicht Fahrer:innen, sondern Daten, Algorithmen und Marktposition sind.
Abkehr vom bisherigen Delivery-Modell
Die aktuellen Massenentlassungen scheinen eine Zäsur zu markieren: Lieferando verabschiedet sich von seinem bisherigen Hybridmodell und orientiert sich stärker an den Praktiken seiner Wettbewerber. Durch die verstärkte Auslagerung an Subunternehmen – in der Branche euphemistisch als „Schattenflotten“ bezeichnet – wird nicht nur die direkte betriebliche Verantwortung verschleiert, sondern auch die betriebliche Zugehörigkeit der Beschäftigten systematisch unterlaufen. Diese Schattenflotten operieren im Auftrag, aber außerhalb tariflicher und betriebsverfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen. Die Folge ist eine juristische Fragmentierung der Arbeitgeberverantwortung bei gleichzeitiger operationaler Zentralisierung über die Plattform.
Mit dieser Massenentlassung wird das zentrale Machtinstrument der Beschäftigten – die kollektive Interessenvertretung – gezielt entmachtet. Subunternehmer unterliegen keinen Betriebsräten, gewerkschaftliche Organisierung wird durch die Zersplitterung der Belegschaft erschwert, und Arbeitsrechte lassen sich nur unter hohem Aufwand einklagen. Diese Entwicklung folgt keiner betriebsinternen Rationalisierung, sondern ist Ausdruck einer politisch-ökonomischen Strategie: die systematische Externalisierung von Arbeitsverhältnissen, um Regulierungsansprüche zu umgehen und zugleich Kontrolle über die Arbeitsprozesse zu behalten.
Erschwerte gewerkschaftliche Organisierung
Die kollektive Organisation von Plattformarbeiter:innen war bereits vor der „Restrukturierung“ strukturell erschwert – durch ein Arbeitsverhältnis, das auf Vereinzelung und Digitalisierung setzt. Kommunikation, Dienstanweisungen und Feedback laufen vollständig über die App, der Kontakt zu Vorgesetzten ist entpersonalisiert und beschränkt sich auf algorithmisch vermittelte Interaktionen. Persönliche Begegnungen mit Kolleg:innen sind selten und zufällig, da Schichten dezentral und individuell angetreten werden – zumeist allein und ohne gemeinsamen Treffpunkt.
Diese radikale Dezentralisierung zerschneidet nicht nur betriebliche Öffentlichkeit, sondern unterbindet auch solidarische Praktiken im Arbeitsalltag. Der Erfahrungsaustausch über Arbeitsbedingungen, Probleme oder rechtliche Ansprüche wird so zur Ausnahme. Hinzu kommt eine Beschäftigtenstruktur, die häufig durch geringe Zugangsvoraussetzungen, hohe Fluktuation und einen hohen Anteil migrantischer Arbeitskräfte geprägt ist – ein Arbeitsumfeld, das Unsicherheit und soziale Abhängigkeit systematisch verstärkt und gewerkschaftliche Organisierung nicht nur erschwert, sondern als Risiko erscheinen lässt.
Die Vereinzelung ist dabei keine unbeabsichtigte Nebenfolge digitaler Steuerung, sondern Teil eines arbeitsorganisatorischen Designs, das Prekarität funktionalisiert. Es handelt sich nicht um bloße Deregulierung, sondern um eine gezielte Entbettung von Arbeit aus ihren kollektiven Schutzstrukturen – im Dienste eines Geschäftsmodells, das auf juristische Verantwortungslosigkeit, algorithmische Steuerung und die Mobilisierung atomisierter Arbeitskraft setzt.
Gegen Ausbeutung, für kollektive Gegenmacht
Was bei Lieferando geschieht, ist kein Betriebsunfall – es ist Methode. Die systematische Entlassung tausender Fahrer:innen, die Verlagerung in prekäre Subunternehmerverhältnisse, die Zerschlagung betrieblicher Strukturen: All das folgt der Logik eines digitalen Kapitalismus, der Arbeitskraft wie Wegwerfware behandelt. Plattformunternehmen wie Lieferando profitieren von öffentlicher Infrastruktur, konsumieren Lebenszeit und entziehen sich jeder Verantwortung. Es ist ein Geschäftsmodell, das von Unsicherheit lebt – und von der Vereinzelung derjenigen, die ihm dienen.
Aber es regt sich Widerstand. Die spontanen Streiks in Frankfurt, Hamburg und anderswo sind keine defensiven Reaktionen, sondern erste Schritte zur Organisierung kollektiver Gegenmacht – von unten, jenseits der Fassaden digitaler „Flexibilität“. Sie zeigen: Auch in der fragmentierten, digitalisierten Arbeitswelt ist Widerstand möglich – wenn wir ihn gemeinsam organisieren.
Deshalb: Solidarität mit den streikenden Rider! Ihre Kämpfe sind unsere Kämpfe – gegen Lohndumping, gegen Outsourcing, gegen algorithmische Kontrolle. Unterstützt die Aktionen, schließt euch an, macht den Druck sichtbar – auf der Straße, im Netz, im Betrieb.